Realismus und Dungeons

Hier geht es um die Frage, wie ein Dungeon in einer Hintergrundwelt realistisch funktionieren kann. Der Knackpunkt an der Frage liegt am Wort „realistisch“. Was an der Frage problematisch ist und wie man sie dennoch beantworten kann.

Das Gute ist das Gegenteil des Perfekten. An diesem Satz ist einiges Wahres dran, und Spielleiter und Rollenspieler können für den Begriff des Perfekten getrost den Begriff des Realistischen einsetzen. Wohl viel zu häufig wird sich gefragt, wie ein Rollenspiel realistisch gespielt werden kann anstatt es zu spielen. Dennoch wie auch für Literatur kann Rollenspiel nur mit der Suspension of Disbelief funktionieren. Ja dazu gehört eine Illusion des Realismus, aber sie sollte nicht so weit gehen, dass die Spieler keine Freiheit mehr besitzen. Also: kein Realismus, aber Plausibilität. Illusion der Realität ja, aber nicht Illusion der Freiheit. Aber was ist Plausibilität? Plausibilität ist ein Mindestmaß an gesundem Menschenverstand. Menschenverstand heißt: Urteilsvermögen, beurteilen zu können, dass bestimmte Dinge bestimmte Auswirkungen haben. Diese Auswirkungen müssen nicht nur toleriert, akzeptiert, sondern affirmiert werden. Es geht hier um Logik und Schlussfolgern. Wenn eine Folgerung notwendig ist, dann ist sie dies unabhängig von Genrekonventionen. Ja, in diesem Sinne heißt Menschenverstand auch: Ergebnisoffenheit.

Es gibt viele die meinen, ein Dungeon braucht keine Erklärung zu haben. Auch wenn ich mir vorstellen kann, wie wichtig ein offener Kern beim Dungeonkonzept ist, glaube ich aber, dass es für den Spielleiter dennoch sinnvoll sein kann, eine Erklärung für den Dungeon zu haben, auch wenn sie nie entdeckt wird. Sie ermöglicht es ihm auf jeden Fall den Dungeon zu gestalten, zu verstehen und handzuhaben.

Genau genommen gibt es einen zweiten Aspekte bei der Frage nach dem plausiblen Dungeon, der genauso wichtig ist: Wie kann eine Welt realistisch aussehen, wenn es in ihr Dungeons gibt?

Sobald diese Frage gestellt wird, entwickelt sich die Dungeon – Fantasy zu so etwas wie Science Fiction einer Fantasywelt. Denn es ist die Aufgabe der Science Fiction, aufzuzeigen, welche Folgen bestimmte, oft auch minimaler Veränderungen unserer Lebenswelt haben. Die obige Frage ist die Frage nach den Folgen eines Dungeons für die Lebenswelt der Bewohner einer Fantasywelt. Diese gehören genauso konsequent durchdacht, wie gute Science Fiction. Es geht bei der Frage nach dem plausiblen Dungeon auch immer um die Plausibilität der Welt, in der es den Dungeon gibt. Es lässt sich viel Plausibilität für das Spiel gewinnen, wenn sich mit zumindest der zweiten Frage ein wenig auseinandergesetzt wird, egal wie die konkrete Antwort für die erste Frage aussieht (und sie kann recht einfach ausfallen). Dadurch erreichen wir Suspension of Disbelief, die Welt mag nicht realistisch sein, aber sie erscheint es. Aber zunächst zum ersten Teil:

Magie
Das Dungeon kann sehr einfach gedacht werden. Ron Edwards hat dies einmal ausgeführt, wie ich bereits aufgeführt habe. Hier sitzt auf dem Grund des Dungeons ein wahnsinniger Zauberer und alter Ego des Spielleiters. Ein verwandtes Konzept hat Philotomy, bei dem der Dungeon selbst eine von Magie durchdrungene Entität ist, eine Unterwelt mit eigenen Naturgesetzen (die es zu entdecken und auszunutzen gilt).

Für beide ist die Erklärung magisch. Magie ist die Antwort. Das Magische ist in diesen Fällen eine Quelle aus dem sich der Dungeon immer weiter speist und die konstant die Logik und Natürlichkeit ausser Kraft setzt. Aber das Magische ist selbst nur eine Metapher und kann weiter erklärt werden. In einem Fall ist der Dungeon einfach herbeigezaubert, im anderen Fall ist die Magie eine Energie, das die Grundlage für ein besonderes Ökosystem bildet in dem sich der Dungeon entwickelt hat.

Die Grundidee kann leicht abgeändert werden. Es kann sein, dass anstatt des alten, verrückten Zauberers mit Spitzhut ein eher cthulhoides Wesen im Dungeon gefangen ist und unbewusst eine chaotische Energie ausstrahlt, die den Dungeon erfüllt. Vielleicht ist der Ort von Magie erfüllt, weil er in der Geschichte des Kosmos wichtig war und die Kraft ein Echo anderer Kräfte ist, die hier einst gewirkt haben. Vielleicht ist es eine Mischung aus beiden Vorschlägen und der Dungeon ist ein Aufbewahrungsort für ein mächtiges Artefakt, Geschenk und Fluch, verwahrt oder verloren.

Wenn die Quelle der Energie ein Wesen ist oder war, ermöglicht die Erklärung ein Dungeon mit einer Persönlichkeit im Sinne der Philotomyschen Unterwelt. In einem Dungeon mit feindlicher Persönlichkeit wird, wie Philotomy es beschreibt, die Dunkelheit ein echtes Hinderniss für die Charaktere, nicht aber für die ursprünglicheren Bewohner. Diese sind selbst verflucht. Sobald sie aber „befreit“ werden und mit den Charaktere gemeinsame Sache machen, haben sie plötzlich mit den gleichen Nachteilen zu kämpfen.

Portale
Auch K.530 sieht den Ursprung des D&D Dungeons als etwas Magisches. Er bringt jedoch eine neue Möglichkeit hinein, auf die häufig in der Literatur verwiesen wird und die mir der Idee des Dungeons, der Höhle, zusammenhängt: Portale.

Portale sind nicht mehr Ursprung der Magie, sondern Medium, das wie ein Ursprung wirken kann. Sie können magische Kraft ausstrahlen und vielleicht unintendiert die Welt verändern, aber sie haben noch mehr Potential. Alleine die Existenz von Portalen im Dungeon macht es zu einem offenen System in das neben Energie auch andere Ressourcen und Bewohner gelangen können. Durch Portale werden Dungeons zu etwas ganz anderem als Dungeons. Anstatt unterirdischer Sackgassen mit ökologischen Rechtfertigungsproblemene werden sie zu wichtigen Knotenpunkten.

Einige Beispielentwürfe
An anderer Stelle beschreibt Philotomy ein ausgearbeitetes Setting das in Richtung K.530 geht: Es handelt sich um einen Turm, der mysteriöserweise in der Nacht erscheint und Abenteurer anlockt. In dem Turm ist ein magisches Portal, das in die Unterwelt führt. Diese ist ein chaotischer und unvorhersehbarer Ort mit einem unbekannten Zweck. Ein klassischer Megadungeon. Einige der Monster sind vertraut, andere bizarr und außerweltlich. Schätze bestehen aus vertrauten Münzen, Achtrealismünzen, Jadefigürchen und verstörend fremdartigen Juwelen und Kunstwerken. Die Charaktere können über die Portale flüchten, es gibt allerdings auch andere Portale, die ihnen aber jeden Durchgang verwehren. Reisende von anderen Welten nutzen sie, anscheinend kann jeder Reisende nur auf seine Welt damit reisen. Jedes Portal hat ein Zeichen, das für die Welt steht. In tieferen Ebenen gibt es allerdings weitere Portale.

Ein anderes fantastisches Setting basiert auf einer Geschichte von Fritz Leiber. Hier ist es die Ankunft außerweltlicher Händler, die mit sich kostbare Dinge bringen – aber vor allem immer auch Portale in dieselbe Unterwelt. Sie gewähren jedem Eintritt, wenn er sie an seinen Gewinnen beteiligt – oder die Ausrüstung nur bei ihnen kauft und verkauft. Der Vertrag wird natürlich mit einer Unterschrift versehen und ist bindend.

Mehr in Richtung Hellraiser, Dark World und House of Leaves können sich auch plötzlich an verschiedenen Orten Türen auftuen, die in eine solche Unterwelt führen – wenn auch zunächst in etwas abgelegene Bereiche dieser Welten. Dies ist dann ein kosmologisches Ereignis.

Die 3 Phasen der Dungeonentwicklung
Egal ob Portale oder Dungeons mit magischen Quellen: Ein Dungeon hat Auswirkungen auf die unmittelbare Welt. Dabei beginnt es meistens klein.

Eine Ausnahme ist Phase 0. Hier ist die Menschheit selbst in einem archaischen Zustand. Geschichtsschreibung sind noch nicht wirklich erfunden, die Menschen sind meistens in Stämmen aufgeteilt, Reiche haben noch ihre eigenen organisatorischen Probleme und machen ihre ersten Erfahrungen mit Polititk, Chaos herrscht in der Welt, die den Wilderlands ähnlich ist. Ein Dungeon fällt hier gar nicht groß auf. Wie in dem von mir verlinkten, früheren Beitrag ausgeführt, stellt sich Maliszewski so Dungeons vor.

Phase 1 ist dann schon bei zivilisierteren Zeiten anwendbar. Bei Justin Alexanders Open Game Table wird von einer Goldrauschstimmung geredet. Dies könnte der erste Effekt eines Dungeons auf seine Umgebung sein.

Gerade aber, wenn der Dungeon bekannter wird, wirds interessant.

Phase 2 tritt in hochmagischen Welten auf, wenn sie so konzipiert sind, wie es sich K.530 für D&D vorstellt: Da Dungeons durch die Lage unter der Oberfläche zugleich hervorragend gegen viele magische Effekte abgeschirmt sind wie Weissagung und Teleportation (außer durch Portale) werden sie, sobald sie entdeckt wurden, für Magier, magische Entitäten aber auch allgemein hochrankgige Persönlichkeiten interessant. Der Dungeon ist ein Ort der besonders geschützt ist vor Magie und eine Ressource in der Welt, sozusagen ein Atombunker in einer Welt in der Magie so etwas wie eine Atombombe sein kann. Gegnern ist es dann nicht mehr möglich, über Wahrsagerei den Ort zu erkunden und kartografieren, dann in die Gemächer des Besitzers zu teleportieren um ihn zur Strecke zu bringen oder in die Schatzkammer zu teleportieren um sie zu erleichtern.

Alternativ kann man sich für wenigmagische Welten vorstellen, dass sich nun ein Kartell bildet. Die Mafia kontrolliert den Dungeon und will von jedem Abenteuer eine „Schutzgebühr“.

Am Ende gelangen wir zu Phase 3. Hier gelangt der Dungeon unter Kontrolle eines mächtigen Staates oder Reiches und wird vollkommen institutionalisiert. Stargate hat diese Möglichkeit bei Portalen erkundet, Picknick am Wegesrand bei magischen Bereichen. Im ersten Fall ist die Welt nicht magisch, aber die Möglichkeiten und Gefahren für eine Welt, die von Portalen ausgehen sind zu radikal, als dass sie ignoriert werden können. Beim Picknick ist die Welt nicht per se magisch, aber es gibt Zonen (wie ein Dungeon) in denen nicht nur Gold, sondern „magische“ Dinge geborgen werden können, die die Welt verändern. Und viele Jahre später sind Ringe der Regeneration bei den Reichen und Schönen der Welt besonders beliebt. Bei all diesen Formen passiert früher oder später, dass sich ein reges, meist militärisches Treiben um die Bereiche einstellt, denn sie wollen kontrolliert sein. (Bei Picknick gesellen sich dazu Forschung und Stalker, professionelle Grabräuber dazu.)

EDIT: Stanislaw Lems Solaris würde noch eine Phase 4 beschreiben, die der zweiten ähnelt, aber unter institutioneller Schirmherrschaft. In dieser wäre der Dungeon mittlerweile völlig ausgebeutet, aber seine Magie wäre dennoch unverstanden. Die Öffentlichkeit hätte ihn vermutlich schon lange vergessen. Lediglich wenige forschende Magier hätten Zugang zum Dungeon. In ihrer Verzweiflung und ihrem Wissensdurst würden sie nun nicht mehr vor gefährlichen magischen Experimenten zurückschrecken, die den Dungeon zerstören könnten. Gerade wenn der Dungeon wirklich eine Entität ist wie bei Lem Solaris und man über die Eingriffe versucht, mit dieser zu kommunizieren, könnte dieser Entwicklungsstrang Potential haben. In der Moderne entspräche diese Phase dem Einsatz von Nuklearwaffen.

Sprich, Freund, und tritt ein!